Die Sagen um den Kindelsbergturm
Der Untergang der Kindelsberg-Ritter
Einst wohnten gottlose Ritter in einem schönen Schlosse auf dem Kindelsberg. Durch die Ausbeutung ihres Silberbergwerkes auf der benachbarten Martinshardt waren sie ungeheuer reich geworden. Aber der Reichtum machte aus ihnen hartherzige Verschwender. Für die Bedürftigen und Armen hatten sie keinen Heller übrig und verhöhnten währen einer Hungersnot die Hungernden noch. Endlich war es Gott leid, diese himmelschreienden Sünden länger mit anzusehen. Ein kleines Männchen musste den Sündern verkünden, dass sie dem unerbittlichen Sensenmann in drei Tagen zum Opfer fallen würden. Als Wahrzeichen würde eine Kuh des Ritters in der nächsten Nacht zwei Kälber bekommen. Und so geschah es auch.
Bis auf den jungen Sohn des Ritters und dessen schöne Schwester beachtete niemand im Schloss die Worte des unscheinbaren Propheten. Tag und Nacht beteten die beiden Ritterkinder und baten den Herrn um Schonung. Ihre Bitten blieben nicht ungehört. Während alle anderen am dritten Tage durch eine Pest hingerafft wurden, blieben sie am Leben.
Die »Gnadenglocke« von Krombach
Einst hütete der Schweinehirt Engelwerth seine grunzenden Borstentiere in den schattigen Waldungen des Kindelsberges. Da sah er, wie eine große Sau den steinigen Boden tief aufwühlte und etwas Dunkles zum Vorschein kam. Mit Erstaunen erblickte Engelwerth eine Glocke. Rasch machte er aus Weidengeflecht eine Art Schlitten, lud die Glocke darauf und brachte die schwere Last zur Kirche. Dort erzählte er den Leuten, wie er zu der Glocke gekommen sei, fand aber keinen Glauben. Man hielt ihn für einen Dieb und stellte ihn vor Gericht.
Auch das Gericht fand die Erzählung des Engelwerth zu märchenhaft und verurteilte ihn zum Galgentod. Schon legte man dem zitternden Unschuldigen den Strick um den Hals, als plötzlich die Glocke einen lauten mahnenden Ton von sich gab. Klar und deutlich quollen aus ihrem ehernen Munde die Worte: »Nachdem ich tausend Jahre in der kühlen Erde des Kindelsberges geschlafen habe, hat mich vor einigen Tagen eine große Sau heraus gewühlt. Engelwerth in unschuldig, lasst ihn los.«
Alle Leute erschraken. Und endlich rief die Menge: »Das ist ein Gottesurteil.« Engelwerth wurde freigelassen. Noch heute wird behauptet, dass die in der Krombacher Kirche hängende Glocke die so genannte »Gnadenglocke« sei.
»Das Fräulein vom Kindelsberg«
Wer von den Siegerländern kennt nicht den trauten Kindelsberg? Und wer nicht die beiden Wahrzeichen desselben: seinen schlanken, in die Wolken ragenden Aussichtsturm und die neben diesem stehende Kaiserlinde?
Dort auf dem Tannen gekrönten Gipfel stand einst ein prächtiges, fest gefügtes Bauwerk, von dessen Türmen man einen weiten Ausblick über die lieblichen Täler und Höhen des Siegerlandes bis weit hinüber zu den Bergen am Rhein hatte. Es war die Kindelsburg, die den Rittern vom Kindelsberg zu eigen war.
Einer dieser tapferen Ritter hatte ein schmuckes Töchterlein. Es war sein einziges Kind. Der Ritter war mit einem Grafen von der Mark befreundet, der oft auf der stattlichen Feste weilte. Des Burgfräuleins Herz entflammte in Liebe zu dem Märker, und auch der Graf fand eine tiefe Zuneigung zu der lieblichen Jungfrau, und sie verlobten sich. Ehe jedoch der Herzensbund vom Priester geweiht werden sollte, wollte der Verlobte ins Heilige Land ziehen, um gegen die Bedränger des Grabes Christi, die Türken, zu kämpfen.
Der Tag des Abschieds kam. Tränenden Auges und bangen Herzens hing die Geliebte lange an dem Halse ihres Bräutigams. Auch ihm war das Herz schwer, und seine Lippen flüsterten: »Gedenke mein in Liebe, so lange die Linde vor dem Schlosstore grünt. Verdorrt sie aber, so vergiss mich, denn dann bin ich tot.«
Noch lange blickte die zurückgebliebene Braut ihrem mit den Knappen davon sprengenden Verlobten nach.
Drei Jahre waren vergangen. Die ängstlich Harrende hatte noch keine Kunde von ihrem fernen Verlobten erhalten. Dass er noch lebte, sah sie daran, dass die Linde immer wieder frisches Laub trieb. Da kam eines Tages ein anderer Freier in die Kindelsburg. Es war der Ritter vom Geißenberg (Ginsburg). Artig und höflich trat er vor das wunderhübsche Burgfräulein und bat sie, dass sie ihm ihre Hand zum Ehebunde reichen möge. Die erschrockene Maid wies ihn jedoch schroff zurück, ihm antwortend: »Die Treue, die ich meinem Verlobten geschworen habe, will ich halten. Erst dann bin ich von meinem Versprechen los, wenn die Burglinde nicht mehr grünt.«
Der also Abgewiesene wandte sich tückischen Auges heim. Er sann und brütete über etwas nach. Da, eines Nachts, als die Luft stürmte und schwarze Wolken am Himmel daher jagten, schlich er zur Kindelsburg hinauf, riss die grüne Linde aus warf sie in den Abgrund und pflanzte eine verdorrte Linde an deren Stelle.
Wie erblasste das Ritterfräulein, als es am nächsten Morgen sein Lieblingsplätzchen unter der Linde aufsuchte und sah, dass sie ganz vertrocknet war. Klagend und jammernd trat die Jungfrau ins Schloss und wollte sich von keinem Menschen trösten lassen.
Nicht lange danach erschien der Geißenberger wieder vor der ganz geknickten Maid. Auf die dürre Linde weisend, wiederholte er seinen Antrag. Aber auch jetzt wollte die Arme nichts von ihm wissen und wies ihn ab. Von Zorn übermannt, zückte der Geißenberger den Dolch und stieß ihn der Jungfrau ins Herz, das sie tot hinfiel.
Als der grauenvolle Tag zur Neige ging, kehrte der Graf von der Mark aus dem Kampfe zurück. Da führte man ihn zur Totenbahre, auf der seine Braut lag. Wie entsetzt und niedergeschlagen war er, als er vernahm, was geschehen war. Die dürre Linde schleuderte er ins Tal und bereitete dort seiner toten Geliebten das Grab, wo sie so gern unter dem Schatten der Linde seiner gedacht. Und dann pflanzte er eine blühende Linde auf den Hügel.
Der Geißenberger aber fand bald des Grafen Rache für seine Freveltat.